Bekennender Heiner 2007

Helmut Markwort

Helmut Markwort: Mein Darmstadt

Bestimmt tausend Mal habe ich schon „Darmstadt“ geschrieben oder gesprochen in Behörden oder Hotels oder sonstigen ordentlichen Einrichtungen, die meine Geburtsstadt wissen wollten. Jedes Mal weckt die Nennung schöne Erinnerungen an die Stadt, in der ich auf die Welt gekommen bin und in der ich die wichtigen prägenden Jahre gelebt habe.

Die Eltern und die Großeltern, die Schule und die Schulfreunde, das Theater sehen und Theater spielen, und die journalistischen Lehrjahre sind mir in vielen Bildern und Szenen gegenwärtig, wenn ich an meine Heimatstadt denke.

Jeden Tag bin ich durch den Herrngarten ins provisorische Ludwig-Georgs-Gymnasium in der Lagerhausstraße gegangen, die heute Julius-Reiber-Straße heißt. Hinwärts rasch – weil ich zu spät war – heimwärts wie ein Bummelant, weil ich vielen Ablenkungen nachgegeben habe. Wir mussten uns das Schulgebäude mit einer Mädchenschule teilen, was vielerlei Kontakte mit sich brachte. Wir klebten Botschaften unter die Bank und verabredeten uns zu blind dates, obwohl keiner von uns damals den Ausdruck kannte.

Später, als der Neubau des Ludwig-Georgs-Gymnasiums mit den viel diskutierten Figuren von Bernhard Heiliger vollendet war, ging ich täglich in die andere Richtung – bis zum Abitur.
Unser Deutschlehrer hat mir die Schönheiten unserer Sprache nahe gebracht, und der Studienrat für Latein und Griechisch, der wie der Datterich-Dichter Niebergall hieß, hat uns im Unterricht und vor Ort in Rom davon überzeugt, dass die so genannten toten Sprachen einen lebendigen Geist erzeugen können.

Als das LGG kürzlich seinen 375. Geburtstag feierte, war es für mich selbstverständlich, aus diesem Anlass bei einer Aufführung des Datterich mitzuwirken. Beim Klassentreffen zum 50. Abiturjubiläum, zu dem sich erfreulich viele Mitschüler getroffen haben, sprachen wir voller Nostalgie und Respekt von der Schulzeit, der wir so viel zu verdanken haben.

Am LGG wurde ich auch vom Theaterspielen infiziert. Wir spielten Aristophanes und Lope de Vega und andere Klassiker. Abends stand ich oft noch in der Orangerie auf der Bühne. Es war mir gelungen, beim damaligen Landestheater Mitglied der Statisterie zu werden. Meine Freunde und ich bekamen zwei Mark für die Vorstellung und fünf Mark, wenn es im Omnibus zu Gastspielen in Offenbach oder Aschaffenburg ging, aber wir hätten auch umsonst das lärmende Volk oder Kerzen haltende Diener gespielt, denn wir erlebten in dieser Statistenzeit hautnah und intensiv den genialen Regisseur Gustav Rudolf Sellner. Es war großartig, ihn während der Proben zu erleben.

Nach der Premiere besorgte ich mir frische Andruck-Exemplare der Darmstädter Zeitungen und studierte die Kritiken mit einer Anteilnahme, als wäre meine Statistenrolle ein wichtiges Element der Aufführung gewesen.
Schon damals las ich fasziniert die Rezensionen von Georg Hensel, der im „Darmstädter Echo“ und später viele Jahre in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ der für mich beste und erzählerischste Theaterkritiker Deutschlands war. Wer das Theater mag, muss seinen „Spielplan“ lesen.

Manchmal gelang es dem 18jährigen Oberprimaner sogar nachts noch in den Kellerclub im Schloss zu schlüpfen, wo die Kulturkoryphäen Hof hielten und zechten, bis es draußen hell wurde.

Heute noch zahle ich regelmäßig meinen Beitrag für den Kellerclub, den ich auch in meinen ersten Jahren als Journalist so oft wie möglich aufsuchte. Erst als Volontär und dann als jüngster Redakteur beim „Darmstädter Tagblatt“ saß ich plötzlich neben dem großen Georg Hensel im Kino. Am nächsten Tag las ich staunend seine Kritik und versuchte mich an seiner Anschauung und an seinem Stil zu schulen.

Georg Hensel gehört heute noch zu meinen journalistischen Vorbildern. In der Zeit beim „Darmstädter Tagblatt“ lernte ich Darmstadt mit allen Höhen und Tiefen kennen, traf alle damals handelnden Personen und konnte schreiben, soviel ich wollte. Und ich wollte immer schreiben und berichten und erzählen. Wenn abends oder am Wochenende noch ein Termin oder ein Thema zu besetzen war, habe ich immer hier gerufen. Ob im Landestheater oder bei den 98ern, im Stadtparlament oder bei Verbrechen, im Gerichtssaal oder im Vereinsleben. Ich lernte jeden Tag mehr über Darmstadt und gab mir Mühe, unseren Lesern zu erzählen, was ich gesehen und gehört hatte.

Selbstverständlich habe ich damals auch viel über das Heinerfest geschrieben und durfte manchmal unter dem Redaktionspseudonym „Heiner“ auch die so genannte Lokalspitze schreiben, die tägliche Glosse über das Geschehen in der Stadt.

Als ich damals Aufführungen des Datterich mit dem unvergesslichen Joseph Offenbach sah, habe ich natürlich nicht zu träumen gewagt, dass ich später einmal selber mit Robert Stromberger und Günter Strack im Datterich würde spielen können. Fast ein Dutzend Mal habe ich bei der hessischen Spielgemeinschaft im Staatstheater den „Herrn Dummbach“ gegeben. Und mit Schulfreunden aus dem LGG missionieren wir bis heute mit dem Datterich in ganz Deutschland.

Obwohl ein großer Geist gesagt hat, der Datterich sei eines der besten Lustspiele Deutschlands, leide aber darunter, dass man es außerhalb Darmstadts nicht verstehen könne, haben wir die Darmstädter Mundart nach Ernst Elias Niebergall im Laufe der Jahre schon nach München, Berlin, Baden-Baden, Bonn und – sogar zweimal – nach Münster in Westfalen exportiert.

Das preußische und bayerische Publikum hatte seine Freude daran.