Bekennender Heiner 2019

Roland Hotz

Vom Ei zum Kikeriki - Ein Komödiant in Darmstadt

Bis zu meiner Geburt lebte ich sehr zurückgezogen. Doch an einem kalten Januartag des Jahres 1952 wurde ich ohne mein Einverständnis plötzlich ans Licht der Welt gezerrt. Geblendet und verängstigt sah ich der alten Hebamme und dem neuen Leben ins Gesicht. Bald darauf lernte ich meine Eltern kennen. Meine Mutter war eine sehr frauliche Frau und mein Vater war ein arbeitsloser Zirkusclown.

Es waren schlechte Zeiten und das war gut, denn in schlechten Zeiten halten die Menschen zusammen. So wurde ich von Jahr zu Jahr größer und meine Eltern älter. Mein Vater verdiente nun sein Geld unter dem Künstlernamen Willi Bendow als Komiker und Conférencier. Mit der Zeit wurde unsere Familie größer und größer, denn meine Mutter brachte mit Fleiß kleine Mädchen zur Welt. Mein Vater war nun viel auf Tournee, und ich war allein zu Hause unter Frauen. Während Queen Mom samt Königin und Prinzessinnen ihr Milchbad nahmen, kümmerte ich mich um alle Arbeiten, die schwer, dreckig und stinkig waren. Es war eine wirklich schöne Zeit – für meine Schwestern. Zur Entschädigung aber befreite mich Bendow manchmal aus dem Frauenhaus, um ihn bei seinen Gastspielen zu begleiten. Das war eine große Zeit für den kleinen Roland, denn ich lernte nicht nur die Fernsehgrößen der damaligen Zeit, wie Billy Mo, Vico Torriani oder die Jacob Sisters persönlich kennen, sondern auch das verrückte Künstlerleben zwischen Rampenlicht und Hotelzimmerfunsel – zwischen Schein und Sein. In der Schule war ich natürlich auch, aber die Schule war nicht bei mir. Meine Lehrer kannte ich nur von hinten, denn mein Platz im Klassenraum war die Ecke neben der Tafel. Doch muss ich hier anführen, dass dieses Eckensteher-Dasein für mich einen schicksalhaften, soziokulturellen Lernprozess darstellte – ich genoss erstmals die volle Aufmerksamkeit der Anwesenden und ich verlor die Angst davor, vor einem Publikum zu stehen!

In den sechziger Jahren hatte der Fernsehapparat aus dem Kreis der Familie einen Halbkreis gemacht. Die gesamte Bühnenwelt litt enorm unter diesem neuen Unterhaltungsangebot. Aber mein Vater sah in dieser Zeit auch einen völlig neuen Markt, die Kinderbelustigung! Landauf, landab konnten sich die Ehemänner weder der großen neuen Lust des Fernsehguckens entziehen, noch dem damals üblichen Sendeschluss. So begann eine äußerst fruchtbare Ära, und es gab sehr viele Kinderlein. Mein Vater erkannte sofort den damit einhergehenden Bedarf an Kinderunterhaltung und gründete die „Stolzenfelser Kinderbühne”. Alles, was das Kinderherz und die Veranstalter begehrten, wurde unter diesem Namen dargeboten: Ponyreiten, Kinderzauberei, und auch das unvermeidbare Kasperletheater.

Natürlich konnte mein Vater dies nicht alles alleine auf „die Bretter, die die Welt bedeuten” stellen, und so engagierte er Hinz und Kunz, um die Kinderlein zu belustigen. Doch eines Tages konnte Kunz nicht mit seinem Kasperletheater auftreten. Da erinnerte sich mein Vater daran, dass er irgendwann in den fünfziger Jahren einen Sohn bekommen hatte, und der Verdacht fiel bald auf mich. Nach einiger Sucherei fand man mich in einer unaufgeräumten Dachmansarde hoch unter den Wolken in meinem Kuckucksheim. Man konnte sich daran erinnern, dass ich viel herumbastelte, zeichnete und malte, dass ich seltsame Texte verfasste und den Sinn des Lebens im Unsinn sah. Man trug mich in die Küche, wusch mich gründlich und gab mir den Auftrag, umgehend Kasperletheater spielen zu wollen müssen.

So spielte ich zwei Jahre lang das lustige Kasperle. Nun begab es sich zu jener Zeit, dass ich plötzlich anfing, selbstständig zu denken. Ich dachte mir dies und das, aber auch selles und jenes, aber am meisten dachte ich darüber nach, wie man dieses Kinderbelustigende Kasperletheater zu einem wirklich guten Puppentheater machen könnte. Als ich fertig darüber nachgedacht hatte, nahm ich all meinen Unmut zusammen und präsentierte meinem komischen Vater mein zukunftsweisendes Kasperle-Konzept. Von da an haben wir nie mehr ein Wort miteinander gesprochen. Ich ergriff einen ordentlichen Beruf, wurde Handbuchbindermeister und Vater von drei Kindern und lebte fortan in Frieden. Allerdings nur bis zum Jahre 1979, denn da erschien mir eines Nachts im Traum das bereits erwähnte, Kinder belustigende Kasperle. Es sprach zu mir: „Hör mal Hotz, wie wär’s, wenn wir beide uns zusammentun? Du steckst mir die Hand hinten rein und ich halte den Kopf dafür hin, das wird bestimmt eine komische Nummer“. Ich fand die Idee zwar gleich richtig gut, doch ich erbat mir einige Änderungen bei der Art und Weise der kasperlativen Lustigbarkeit. Das Kasperle sagte nach kurzem, unüberlegtem Nachdenken: „So soll es sein! Wes’ Hand ich spür, des’ Stück ich spiel’!”. Er schlug mir dreimal mit seiner Klatsche auf den Kopf, rief „Gut Holz, Hotz” und schlief ein. So gründete ich am darauffolgenden Tag unumgänglich das „Kikeriki Theater”. Abgesehen davon, dass Freund und Feind sicher waren, dass ich an geistiger Rundumverwirrung leide, war mein Entschluss unumstößlich. Gesegnet mit allen Unglückswünschen dieser Welt begann somit ein komisches Theater seinen oft auch unkomischen Weg.

Juhu, ein Puppentheater war geboren! Ich war nach dem Theater mit meinem komischen Erzeuger zum Erzeuger eines komischen Theaters geworden. Doch wie geh’ ich’s nun an? Heute bau’ ich’s, morgen spiel’ ich’s und übermorgen verdien’ ich der Königin ihr Geld! Nein, so nicht. Geld und Ruhm waren egal, einfach nur spinnen und spielen dürfen. Das war’s. Ohne Ziel, ohne Druck, behutsam, langsam, gesund und vor allen Dingen munter sollte das kleine Theaterchen aufwachsen. Ein reines Vergnügen sollte es sein, für die „Kinder” vor und hinter der Bühne. Jetzt hieß es anfangen. Ich brauchte Mitspinner. Da ich auf die Schnelle keine Freiwilligen fand, musste ich sie zwangsrekrutieren. Die Frau, ihr Cousin und ein Ehepaar, das neu ins Haus gezogen war. Die Frau war abhängig, der Cousin war zu jung, um sich zu wehren, und das arme Ehepaar wollte sich nicht gleich nach dem Einzug Feinde in der neuen Hausgemeinschaft machen. So setzte man sich in der neu gegründeten „Amateurpuppentheatergruppe” zusammen und diskutierte zwecks Projektrealisierung über künstlerische Ziele und Konzepte; natürlich kollektiv, unkommerziell, antiautoritär, und was weiß der Fritz Teufel noch alles. Doch schon nach dem ersten gruppendynamischen Zusammentreffen hatte ich eine Erkenntnis gewonnen: So wird’s mal überhaupt nix!

Von nun an ging es aufwärts. Jeder konnte frei sagen und vorschlagen, was er wollte, und ich sagte dann, was und wie es gemacht wurde. Anstatt Direktor war ich Diktator, und anstatt kreativer Gemeinsamkeit gab es für mich manch’ geistige Einsamkeit. Doch egal, Hauptsache, die Arbeit an Puppen, Bühne und Stück ging zügig voran. Am 7. September 1980 ging die lang ersehnte Premiere endlich über unsere kleine Bühne. Alle Beteiligten schwebten nun glücklich auf meiner Wolke Sieben, und wir gaben Vorstellung auf Vorstellung. Doch dann holte uns eine völlig neue Erkenntnis zurück auf den Boden der Tatsachen: Wir mussten nun mit der Vorbereitung eines zweiten Stücks beginnen. Aha! Das hieß also für die Zukunft: am Wochenende spielen und in der Woche Schreibtisch, Werkstatt und Proben. Aber wir waren bereit, wir stellten von nun an unsere Kraft in den Dienst eines Puppentheaters und unser Privatleben hinten an.

Mittlerweile zu einiger Bekanntheit gelangt, spielten wir als Amateurpuppentheater für die vielen Kinderlein in unserer Stadt. Doch dann geschah etwas Unvorhersehbares: Wir wurden völlig unvorbereitet darauf hin angesprochen, in einem Folk-Club vor erwachsenen Menschen aufzutreten. Wir lehnten natürlich ab. Erstens wollten wir nie für Erwachsene spielen, zweitens hatten wir kein geeignetes Programm und drittens ging uns schon alleine bei dem Gedanken daran der Arsch auf Grundeis. So kam es, wie es kommen musste. Die so genannten „guten Freunde” überredeten uns doch zu einem kurzen Auftritt. So standen wir plötzlich auf einer kleinen Bühne in einem kleinen Kneipensaal vor erwachsenen Folk-Rockern. Wir, die naiven Amateurpuppenspieler, bepackt mit ein paar Püppchen aus einem Kinderstück und ebenso bepackt mit gut gefüllten Hosen. Eigentlich hatte ich vor, erst einmal ein paar nette Witzlein zu machen, um die gierige Meute milde zu stimmen. Doch da hörte ich plötzlich eine mir wohl bekannte Stimme: „Gude, ich bin’s Kaspersche, es klahne lusdische Kaspersche!”. Da wurde mir klar, dass sich mein kleiner Geschäftspartner heimlich unter die Puppen gemischt hatte. Er übernahm unaufgefordert das Regiment, spielte rotzig-frech mit den anderen ein paar kleine Szenen, sagte „Uff Widdersehn” und verschwand. Das Publikum war zu unserer Überraschung begeistert. Fortan spielten wir nun auch für Erwachsene, mit einem kleinen Holzkopf und großer Freude.

Anfang der neunziger Jahre hatte sich das Kikeriki Theater für Kinder sowie auch für Erwachsene zu einer kleinen Attraktion gemausert. Der Erfolg war schön, aber auch schön anstrengend. Wir spielten mittlerweile drei Abendvorstellungen in der Woche und zwei Kindervorstellungen am Wochenende. Wir hatten aber auch Familien, die wir ernähren mussten und rechtschaffene Berufe, die uns noch immer ernährten. Aber alles Zaudern nutzte nichts, das Kikeriki Theater war unübersehbar in die „Puppertät” gekommen. Es verlangte immer mehr von uns: neue Stücke, neue Scheinwerfer,  Tonanlage, Proberaum, und vor allem unsere Zeit. Ich glaube mittlerweile, ein Theater lebt mehr von der Zeit, als vom Können der Beteiligten. So standen wir plötzlich vor der unausweichlichen Frage: Ganz oder gar nicht?

Wie das Leben so spielt, traten wir in dieser Zeit bei einem Puppentheaterfestival in Dresden auf. In der Vorstellung saß da ein sehr alter Mann zwischen den Kindern der ersten Reihe. Nach der Vorstellung bat er mich zu sich. Mit leiser, fester Stimme sagte er zu mir: „Sie haben mit Ihrem Talent nicht das Recht, sich die Frage zu stellen, ob Sie Puppentheater spielen wollen; Sie haben die Pflicht, es zu tun!”. Nachher erfuhr ich, dass der alte leise Herr Carl Schröder war, ein weltbekannter Puppentheater- und Puppenfilmpionier. Dieser kleine Satz beantwortete unsere große Frage von „Ganz oder gar nicht?” und teilte gleichzeitig unsere Gruppe. So wurde 1992 für die „Ganz-Sager” das Puppenspiel zum Beruf.

Aus einem kleinen, komischen Puppentheater wurde nun komischerweise eine ernste Sache. Es war nun unser Ernährer, obwohl wir doch die Erzeuger waren. Nun waren nicht mehr wir das Kikeriki  Theater, sondern wir waren beim Kikeriki-Theater. Zudem wurde unser Theater nun langsam erwachsen. Es wurde selbstbewusst und verlässlich. Aber es wurde auch nachdrücklicher in seinen Anforderungen. Und wie das Leben oft spielt, wurde unweit unserer Spielstätte ein altes Areal renoviert und zum Teil neu bebaut. Die Bauherren fragten mich, ob wir nicht Interesse an einem eigenen kleinen Theaterraum hätten. 1993 wurde die Eröffnung gefeiert, wir unterschrieben einen Zehn-Jahres-Vertrag und mussten im Monat 9.000 DM Miete bezahlen. Unser Theater wuchs uns langsam über den Kopf. Trotz ständig steigender Auftritte konnten wir dem Zuspruch nicht mehr gerecht werden. Bei einem für uns alle unvergesslichen Vorverkaufstag, bei dem ca. 8.000 Karten für ein gesamtes Halbjahr in den Verkauf gingen, waren wir nach zwölf Stunden Vorverkauf morgens um halb vier ausverkauft. Wir brauchten ein größeres Theater für dieses Theater. Und wie das Leben so spielt, brachte ein einziger Anruf mit sich, dass wir eine Turnhalle in bester Lage offeriert bekamen.

So wurde 1996 die Eröffnung der Comedy Hall gefeiert. Es war unglaublich – den Buckel voller Schulden, die Taschen leer, die Kräfte am Ende, die Familien zerschlagen und die Neider im Rücken. Unser Theater war nun ausgewachsen und Herr über unser Leben. Nicht, dass Sie nun denken, wir hätten diesen letzten Schritt bereut. Nein, ganz im Gegenteil, es war alles gut so, weil es nur so gut war. Ein solches Theaterhaus ist etwas unglaublich Tolles. Endlich konnten wir durchstarten und jährlich über 300 Vorstellungen vor über 50.000 Besuchern geben. 17 feste Mitarbeiter, über 25 Aushilfen, Pacht, Strom, Wasser, Heizung, Telefon, Berufsgenossenschaft, Gema, Künstlersozialkasse, Rechtsanwälte, Handwerker, Tantiemen, Bühnentechnik, Dings und Bums. Ja, im siebten Himmel lebt es sich teuer!

Aber egal – es war und ist herrlich…

Ihr Roland Hotz